Offener Brief an Prof. Dr. med. Martin Butzlaff, Dipl. oec. Jan Peter Nonnenkamp, Prof. Dr. med. vet. Jan Ehlers, Dr. Dirk Jakobs, Prof. Dr. Petra Thürmann
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich beziehe mich auf Ihre beiden Briefe zu der von Ihnen kurzfristig in Ihrem Hause unterbundenen Veranstaltung „Die Würde des Menschen – (un)antasbar?“. Ich muss gestehen, dass ich beginne mir Sorgen zu machen, Sorgen um die wissenschaftliche Redlichkeit und den Ruf der Wissenschaft im Allgemeinen. Ich hoffe, Sie schenken meinen Sorgen ein offenes Ohr.
Sie beziehen sich im ersten Ihrer beiden Schreiben (vom 7.10.2022) auf einen kritischen Artikel im Volksverpetzer. Dort wird, im Artikel vom 5.10.2022 (1) , berichtet, dass der Rechtswissenschaftler Stefan Huster, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Chef des im Sommer aufgelösten Corona-Sachverständigenrates, der mit Stefan Homburg auf einem Podium sitzen sollte, seine Teilnahme an der Veranstaltung abgesagt hat – wegen Homburg, wegen Guérot:
„Beim besten Willen: Mit Frau Guérot und Herrn Homburg werde ich nicht diskutieren. Das wertet völlige [sic!] abwegige und polemische Positionen unnötig auf.“ Homburg pflege nur sein „wirres Weltbild“. Und: „Es ist mir schleierhaft, wie Sie auf die Idee kommen, diese Figuren einzuladen, die spätestens in der Pandemie völlig falsch abgebogen sind. (…) Erwarten Sie da irgendwelche ernsthaften Erkenntnisse???“
Dass das Medium Volksverpetzer kein unabhängiges und seriöses Medium ist, ist Ihnen als Wissenschaftlern sicherlich bewusst. Jedem Menschen, der mit ernsthafter Wissenschaft einmal in Berührung gekommen ist, leuchtet das ein, wenn er den genannten oder beliebige andere Artikel dieses Portals liest, in denen meist Pauschalisierungen anstelle von differenzierter und inhaltlicher Kritik den Grundton bilden. Dieses Medium hat mit Redlichkeits- und Sachlichkeitsansprüchen, die Wissenschaftler an seriöse Medien stellen, wenig gemein. Ich denke, von solchen unrelevanten Nachrichtenmitteln sollten Sie, als Vertreter aufrichtiger Wissenschaft, sich nicht beeindrucken respektive beeinflussen lassen. Oder sehe ich das falsch?
Kritisches Denken gilt innerhalb der scientific community zurecht als unentbehrlich, etwa um wissenschaftliche von unwissenschaftlichen Arbeiten oder Wissenschaftler von Marketingvertretern unterscheiden zu können. Aber wir alle wissen auch, dass eine solche Unterscheidung im Normalfall nicht durch zwei oder drei Studien, oder anhand bloßer Behauptungen zu treffen ist, sondern einem (Erkenntnis-)Prozess unterliegt, in dessen langwierigem Verlauf sich oft überraschende, nicht selten unsere Vorurteile auf die Probe stellende Einsichten ergeben. Um den Anspruch aus der Wissenschaftstheorie auch in die Praxis umzusetzen, ist es deshalb vonnöten, die Positionen, Argumente und die empirischen Belege zu sichten und zu prüfen, um ein möglichst vollständiges Bild der komplexen Wirklichkeitszusammenhänge zu erhalten ‒ kurz: um eine Theorie zu postulieren, die in der Lage ist, die Vielfalt der Phänomene bestmöglich und weitestgehend vollständig zu erklären.
Vor diesem Hintergrund muss ich mein Befremden zu Ihrem zweiten Brief (vom 11.10.2022) und Ihrer in meinen Augen mehr als tragischen Entscheidung sowie Ihrer unzureichenden Begründung zum Ausdruck bringen. In besagtem Brief lassen Sie nicht nur den gebotenen Erkenntnis- und Diplomatiewillen, sondern zugleich den der wissenschaftlichen Redlichkeit vermissen.
Sie schreiben, dass Ihre Toleranz extremen Positionen gegenüber nicht grenzenlos ist, dass Sie keinen Missbrauch dulden und Sie „nachweislich widerlegten Aussagen“ unter dem Deckmantel derWissenschaftlichkeit keine Bühne bieten werden. Das ist natürlich Ihr Recht. Doch wird es genau hier auch erst spannend und: gefährlich! Nachweislich widerlegt wurden möglicherweise einige Aussagen der sogenannten „Querdenkerszene“, da muss man nicht streiten. Doch stellt sich die Frage, inwieweit Sie sich als Universitätsvertreter zu derartigen Pauschalisierungen hinreißen lassen dürfen. Die „Querdenkerszene“ ist eine höchst inhomogene Bürgerbewegung. Dass dort Stimmen zu Wort kommen, die Falschbehauptungen von sich geben, ist nicht weiter ungewöhnlich, das passiert auch in anderen Gesellschaftsbereichen, ja selbst den redlichsten Denkern unterlaufen Fehler, und unsere ehrenwerten Politiker haben nun wahrlich nicht mit kompetenten und nachhaltig korrekten Aussagen während der Pandemiezeit geglänzt, wie sich immer offenkundiger zeigt. Es wäre also jetzt der richtige Zeitpunkt, das Zaubermittel des Differenzierens und Sich-gegenseitig-Zuhörens anzuwenden.
Denn: Nachweislich widerlegt hat die Wirklichkeit mittlerweile so manche Behauptungen, etwa jene, dass man nach der Impfung „vollständig immunisiert“ sei oder dass die Impfung einen Schutz vor Übertragung biete, dass wir eine Pandemie der Ungeimpften hätten, dass es kaum und wenn dann nur harmlose Impf-Nebenwirkungen gebe, dass Lockdowns wirksam und verhältnismäßig waren, dass Zensur nicht stattfindet usf. Strittig sind weiterhin Punkte wie der Sinn und tatsächliche Nutzen der Maskenpflicht. Die großen Metastudien, die wir kennen, erlauben kein finales Urteil darüber, ob Masken nun eine die Virenübertragung verlangsamende oder gar keine Wirkung haben. (2) Gegenteilig kommen einige peer-reviewte Studien sogar zu dem Ergebnis, dass die Kollateralschäden des Maskenzwangs beträchtlich sind.(3) Schon 2021 (Stand KW 38/2021) waren 85% der über 60-Jährigen in Deutschland „vollständig immunisiert“. Seitdem ist die Übersterblichkeit von +45.347 auf +124.453 gestiegen – um 174%.(4) Korrelation oder Zufall? Sollten wir das nicht überprüfen?
Ich finde es unglücklich, dass Sie als Vertreter einer – auch noch aus anthroposophischen Impulsen heraus gegründeten – Universität sich eines Vokabulars bedienen, das der Wissenschaft nicht angemessen ist, wenn Sie gegen die sogenannten Querdenker agitieren. Reicht es denn nicht aus, wenn man Andersdenkende mit guten Gegenargumenten konfrontiert respektive mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) in die Schranken weist, bestenfalls öffentlich in Form einer mündlichen Debatte oder eines schriftlichen „open-science“ Austauschs? Muss man alle Andersdenkenden – von denen kaum einer zu drei Fragen denselben Kenntnisstand oder dieselbe Meinung vertritt – generalisierend unter einen oberflächlichen Schlagbegriff subsumieren? Ist das Ihr Verständnis von Wissenschaftlichkeit?
Ist es nicht so, dass sich die Zahl der „querdenkenden“ Menschen immer weiter erhöht, eben weil sich zeigt, dass sich doch einige der Argumente und Voraussagen dieser unscharfen und schwer einzugrenzenden Gruppierung bestätigt haben? Ist es nicht dasselbe, wie sonst auch in der Wissenschaft? Niemand behält stets Recht, und dennoch wird ein Forscher, der sich täuscht, nicht pauschal abgewertet. Warum auch? Nur, weshalb bedienen Sie sich dann – wie angenommen werden muss: aus Sorge vor Reputationsschäden in den Augen der (medialen) Öffentlichkeit – solcher Methoden? Verletzen Sie damit nicht das Redlichkeitsgebot seriöser Forschung?
Daher eine Bitte: Können Sie die von Ihnen in Ihrem Brief vom 11.10.2022 als „nachweislich widerlegt“ bezeichneten Argumente einmal transparent auflisten, damit interessierte Laien wie auch Fachleute diese nachprüfen, nachvollziehen und verinnerlichen können? Ich denke, so könnten Sie zeigen, dass Sie der Unvoreingenommenheit weiterhin verpflichtet sind. Ich konnte nach eigenen Untersuchungen bei den Aussagen der zu der Veranstaltung geladenen Forscherinnen und Forscher keine sonderlich extremen Positionen feststellen. Könnten Sie mir die in Ihren Augen extremen Positionen nennen? Vielleicht finden sich in einigen Aussagen dieser Wissenschaftler einzelne Irrtümer – geschenkt; vielleicht unbewiesene Postulate – geschenkt. Doch was ist mit den Punkten, wo verdiente Gelehrte wie Frau Prof. Dr. Guérot, Herr Prof. Dr. Hockertz, Herr Prof. Dr. Dr. Haditsch, Herr Prof. Dr. von Herrath, Herr Prof. Dr. Homburg, Herr Prof. Dr. Dr. Schubert, Herr Prof. Dr. Dr. Walach, Herr Prof. Dr. Bhakdi, Herr Prof. Dr. Burkhardt, Frau Prof. Dr. Kämmerer, Herr Prof. Dr. Sönnichsen, Herr Prof. Dr. Kuhbandner, Herr Prof. Dr. Stöhr, Herr Prof. Dr. Ioannidis, Herr Prof. Dr. Fenton, Herr Dr. McCullough oder das Mitglied im Expertenrat der Bundesregierung, Herr Prof. Dr. Bergholz Recht behalten haben, oder solchen, wo sich nachweislich z. B. die Impfstoffhersteller oder Herr Prof. Dr. Drosten – um es milde auszudrücken – irrten?
Ist es nicht so, dass Sie die in Ihrem Hause geplante Veranstaltung eher aufgrund des Drucks von außen abgesagt haben und nicht, weil die geladenen Gäste keine seriösen Argumente auf ihrer Seite haben oder weil zwei Teilnehmer absagten? Sicherlich, eine Absage verhindert die geplante Diskussion, diese kann dann so wie geplant nicht stattfinden. Könnte man eine solche Veranstaltung dann nicht schon allein aus Erkenntnisinteresse heraus verschieben lassen – oder das als Universität nicht zumindest anbieten? Vielleicht könnte man die Absagenden ja sogar dazu bewegen, ihre Absage zu überdenken, da das Interesse doch bei allen Beteiligten groß sein müsste, die besseren Argumente für sich sprechen zu lassen? Was haben diese schon zu verlieren, wenn sie die Gewissheit des Recht-Habens sonnenklar auf ihrer Seite wissen? Oder wie wäre es, wenn Sie als Universität einen Aufruf an die Vielzahl der kompetenten Wissenschaftler in unserem Land gestartet hätten, sich den als schwächer einzuschätzenden Argumenten der „Querdenker“ zu stellen? Es müssten sich doch Forscher finden, die Ihr Fachgebiet sicher beherrschen und die die Argumentation der Querdenker-Professoren zu widerlegen bzw. zu relativieren imstande sind. Stattdessen sagt der Wissenschaftler Prof. Dr. Huster mit fadenscheinigen, antiwissenschaftlichen Rechtfertigungsversuchen ab. Ich finde das als Bürger dieses Landes, dem es um die Wahrheit ist, gelinde gesagt frech und feige.
Eine weitere Ihrer Ausführungen verwirrt mich: „Eine grenzenlose Freiheit, in der für die wissenschaftlichen Methoden und Maßstäbe des Diskurses keine angemessene Verantwortung übernommen wird und klar widersprochene Positionen unter dem Schutzschild einer wissenschaftlichen Einrichtung öffentlichkeitswirksam erneuert werden, birgt die Gefahr, die Institution Universität zu beschädigen, und darf an dieser keinen Platz haben.“
Der Punkt der „klar widersprochenen [!] Positionen“ ist nun, wie Sie wissen, gerade kein Argument, denn nur weil zu einem Thema eine fachliche Autorität jemandem widerspricht, heißt das nicht, dass diese auch im Recht ist und dass ich damit des kritischen Denkens oder Diskurses entbunden bin. Die Corona-Zeit offenbarte mehr denn je, dass Wissenschaftler nicht automatisch immun gegen Gruppendenken, das heißt: kollektiven Glauben sind. Warum auch? Schließlich zeigte sich während der Krise mehr als zuvor, dass auch wissenschaftliche Kollektive (genau wie andere) dazu neigen, sich Bestätigung zu holen (confirmation bias) und soziale Anerkennung zu erheischen. Und umgekehrt: Fürchtet man um deren Verlust, fühlt man sich noch schneller und konsequenter zum Gruppendenken hingezogen. Wir wissen heute, dass einige Bereiche der Wissenschaft den Gruppenzwang regelrecht ‒ wenn auch unbewusst ‒ fördern, anstatt ihn aktiv und bewusst zu bekämpfen. Expertise und Rezeption hängt an der Anzahl der Veröffentlichungen und Zitierungen. Man muss relevant sein. Relevanz wird nicht selten am Quotation Index bemessen, nicht nur an der tatsächlichen Qualität der eigenen Arbeit. Es sind schließlich die eigenen Kollegen, die darüber urteilen, was in ihrem Fach als solide Wissenschaft gilt. Konsens und Konventionalismus drohen Kriterien guter wissenschaftlicher Praxis zu überwiegen. Andersdenkende haben hier wenig zu lachen. All das geschieht in den meisten Fällen nicht vorsätzlich, aber es geschieht effektiv, um Prof. Dr. Sabine Hossenfelders Aussagen diesbezüglich frei zusammenzufassen.(5)
Ich bin der Auffassung – und bitte, widersprechen Sie mir –, dass jede Thematik in der heutigen Zeit nur noch systemisch behandelt werden darf, das heißt, inter- oder gar transdisziplinär. Nur, weil man ein einzelnes Argument oder eine einzelne Behauptung als falsch nachweisen kann, heißt das nicht, dass der Forscher, der dieses Argument in den Kontext seiner komplexen Theorie stellte, sich mit dieser vollständig getäuscht haben muss. Genau darum geht es Forschern wie einer Ulrike Guérot oder einem John Ioannidis: Sie versuchen das Große und Ganze im Blick zu behalten! Sprechen Sie einmal mit diesen Forschern über deren Beweggründe, statt sie auszuladen. Gilt ein Herr Ioannidis – der mittlerweile über 60 peer-reviewte Studien allein zu Corona veröffentlicht hat (6) – in Ihren Kreisen auch schon als Schwurbler, Querdenker oder Antisemit? (7) Würden Sie diesen Mann ausladen?
Ferner: Wie können Forscher heute, respektive konnten diese vor zwei Jahren schon etwa der Behauptung folgen, die mRNA-Präparate seien sicher? Solche Aussagen sind pseudo-science at its best, denn sie können es gar nicht gewusst haben, da keine Langzeituntersuchungen vorlagen und bis heute nicht vorliegen können. Stichwort: Narkolepsie… Forschungsintensität ersetzt Zeit nicht. Es fällt mir schwer, nachzuvollziehen, weshalb solche einfachen Einsichten nicht nachdenklich stimmen.
Seit geraumer Zeit erscheinen in regelmäßigen, kürzer werdenden Abständen peer-reviewte Studien (oder Evaluationsberichte), die einige der Positionen stützen, wie sie die sogenannten (akademischen) Querdenker schon länger vertraten. Ich liste einige exemplarische und unsortierte Links aus meiner langen Sammlung solcher Studien nachstehend auf.(8) Haben Sie dazu eine Meinung? Wurden diese Arbeiten etwa falsifiziert? Von wem, mit welchen Argumenten, Hinweisen oder Evidenzen? Wie gliedern Sie diese Forschungsergebnisse in Ihr Gesamtbild ein, und wie verändern diese Studien Ihre Sicht auf die Komplexität der Zusammenhänge?
Wenn es einigen Ihrer Studenten oder anderen Menschen „als pure Provokation [erscheint], dass an der UW/H eine Tagung organisiert wird, in der grundlegende Aspekte dieser gemeinsamen Arbeit – aller Voraussicht nach – in Zweifel gezogen werden“, dann sollten Sie diese dringend über die Notwendigkeit der Pluralität und Diversität wissenschaftlicher Anschauungen aufklären. Und vor allem sollten Sie diesen Leuten klar machen, dass das, was ihnen (ihrer reinen Vermutung nach) so „erscheint“, auf einem schlichten Vorurteil beruht. Wieso sollte Ihre gemeinsame Arbeit in Frage gestellt werden, nur weil es zu einzelnen Forschungsfragen oder Fragen der Rechtsprechung oder der politischen Entscheidungen fachliche Einwände gibt? Das, was solche Stimmen fordern, hat mit einem wissenschaftlichen Herangehen an die Komplexität des Stoffs jedenfalls nicht im Geringsten etwas zu tun.
Wo bleiben die inhaltlichen Argumente dieser Menschen? Ich vernehme eigentlich seit Beginn der Corona-Krise nichts als Polemik gegen die, die es wagen, das einmal gesetzte Narrativ zu kritisieren und unangenehme Fragen zu stellen. Da werden alle Kritiker mit einigen Radikalen und manchen anderen losen Meinungsmachern in denselben Topf geworfen. Auf die Radikalen verweist man dann, und schon ist man einer inhaltlich mitunter anspruchsvollen Debatte elegant aus dem Weg gegangen. Ernsthafte Antworten auf oft dringliche Einwände vernimmt man dagegen selten.
Ich muss es so klar formulieren: In meinen Augen verstoßen Sie nicht nur gegen die Grundgedanken einer freien, unabhängigen Forschung und Wissenschaft, sondern auch gegen die Wahrung wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit und Ergebnisoffenheit – kurzum: gegen die gute wissenschaftliche Praxis. Stattdessen gehen auch Sie den bequemen Weg der Pauschalisierung, der Selbst-Viktimisierung und -Immunisierung zwecks Schadensminimierung in Sachen Reputation. Das ist eine gefährliche Haltung, die ich Sie neuerlich zu überdenken bitte.
Wissenschaft sollte sich niemals medialem oder politischem Druck beugen, sondern vollkommen unabhängig arbeiten. Die Frage, ob wir uns heute noch freie und ergebnisoffene Debatten leisten können, stellt sich nicht, denn das ist eine unhintergehbare Voraussetzung, ohne die die Wissenschaft als solche am Ende ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie behaupten wollen, abschließend über die einzig richtigen Erkenntnisse zu verfügen. Die Beispiele für diese Denkweise, die ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zutage fördert, zeigen, dass sie zu viel unnötigem Leid führt und den Fortschritt arg behindert.
Weshalb gehen Sie trotz all dieser Ihnen selbstverständlich bekannten Einwände so vor, wie Sie es tun? Weil sich 10 oder 50 Studenten (möglicherweise) beleidigt fühlen? Ernsthaft? Dann wäre es dringend an der Zeit, Ihren Studenten deutlich zu machen, dass persönliche Befindlichkeiten innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses nichts zu suchen haben. Wissenschaft hat den Anspruch, nüchtern über persönliche Befindlichkeiten hinwegzusehen, da sie an den Fakten und nicht an Gefühlen interessiert ist. Hier sollte dringend die notwendige Grundausbildung nachgeholt und den Studenten vermittelt werden, was der Unterschied zwischen dem (freien) Geistesleben und dem (demokratischen) Rechtsleben ist.
Zuletzt eine Bitte: Erklären Sie mir doch gerne Ihren Satz genauer: „Die Universität Witten/Herdecke distanziert sich in aller Entschiedenheit von den Meinungen, Positionen und Narrativen der Querdenkerszene.“
Wer genau ist diese Szene und wie kann ich eine klare Abgrenzung vornehmen zwischen Meinungen und Positionen der Querdenkerszene und solchen seriöser Wissenschaftler? Muss ich mich nach der Mehrheit richten, oder bin ich vielmehr aufgerufen, mich an der Plausibilität der Argumente zu orientieren? Welche objektiven Erkenntniswerkzeuge kann ich zur Hand nehmen? Und: Welche konkreten Meinungen fassen Sie hier überhaupt ins Auge? Welche Positionen sind Ihrer Ansicht nach ganz konkret die Extrempositionen, und werden diese von den ursprünglich zur Tagung eingeladenen Forschern tatsächlich vertreten (ansonsten käme allein die Behauptung in Ihrer Perspektive einer Verleumdung gleich)? Würde es sich nicht lohnen, Brücken zu bauen, sodass wir in einen Dialog treten können, der das Ziel hat, Argumente Andersdenkender zu bewegen? Sollte es nicht möglich sein, dass auch diese ‒ wenn wohl nicht überall, dann doch teilweise ‒ Recht haben und damit wertvolle Ansätze zu einer Erkenntnissteigerung beitragen, die uns als Gesamtgesellschaft nur voranbringen können? Das alles interessiert mich, und sicherlich viele andere Menschen, brennend.
Vielen Dank für Ihre hoffentlich offenen Augen und Ohren.
Mit freundlichem Gruß,
Oliver Heinl
(1) Vgl. https://www.volksverpetzer.de/querdenker/ikonen-der-querdenker-szene-sollen-bei-tagung-an-hochschule-in-witten-sprechen/. Zuletzt abgerufen am 28.10.20
(2) Vgl. https://adc.bmj.com/content/early/2022/08/23/archdischild-2022-324172
(3) Vgl. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S001393512200891X
(4) Vgl. https://de.usmortality.com/. Zuletzt abgerufen am 25.10.2022
(5) Vgl. Hossenfelder, Sabine: The Overproduction Crisis in Physics and Why You Should Care About It. / Blogeintrag vom 18.05.2018. backreaction.blogspot.com/2018/05/the-overproduction-crisis-in-physics.html. Zuletzt abgerufen am 10.10.2022.
(6) Vgl. https://profiles.stanford.edu/john-ioannidis?tab=publications. Zuletzt abgerufen am 28.10.2022.
(7) Bei den deutschen Feuilletons ist das Urteil klar: Verharmloser. Zwar hat der Journalist keine einschlägige Expertise vorzuweisen, aber das hindert ihn nicht daran, einen der meistzitierten und qualifiziertesten, nebenher ehrenhaftesten Forscher unserer Zeit mal eben zum Schwurbler zu diskreditieren. Vgl.: https://www.faz.net/aktuell/wissen/forscher-john-ioannidis-verharmlost-corona-und-provoziert-17290403.html. Zuletzt abgerufen am 28.10.2022.
(8) Vgl. u.a. https://academic.oup.com/ije/advance-article/doi/10.1093/ije/dyac199/6770060, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2022.10.11.22280963v1, https://link.springer.com/article/10.1007/s00404- 022-06765-0, https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(22)00244-9/fulltext#tbl2, https://www.bmj.com/content/376/bmj.o702, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0264410X22010283, https://www.mdpi.com/2077- 0383/11/8/2219, https://obgyn.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ijgo.14356, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/andr.13209, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4206070, https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMc2209371, https://www.aerzteblatt.de/archiv/226765/SARS-CoV-2- Immunitaetsluecke-bei-Schuelerinnen-und-Schuelern-und-Lehrkraeften-im-Sommer-2022, https://www.cell.com/cell-reports-medicine/fulltext/S2666-3791(22)00271-3, https://www.informedchoiceaustralia.com/post/1000-peer-reviewed-studies-questioning-covid-19-vaccine-safety